Grenzüberschreitungen auf Social Media
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Jetzt aber zum Tagesthema: Diese Woche bin ich auf einen traurigen Klassiker der Insta-Grenzüberschreitungen gestoßen. Nora Imlau, Bestsellerautorin und Journalistin, erzählte von einer Abonnentin, die in ihren Familienalltag eingreifen wollte. Die Abonnentin verzerrte Noras öffentliche Präsenz als 24/7-Einladung für Bewertungen, kleidete ihre Anmaßung in einen „Tust du mir diesen Gefallen?“-Schafspelz und schmeckte die fürchterliche Kombi mit einer Prise „Ich mein’s doch nur gut!“ ab.
Gerade Frauen kennen solche Nachrichten: Mütter werden von Esoterikern beschimpft, „weil“ sie ihre Kinder impfen lassen. Nachhaltigkeitexpertinnen werden angegriffen, wenn sie auch mal eine Packung importierte Himbeeren kaufen. Beauty-Influencerinnen wird der Unfollow angedroht, sobald sie über ihre politische Haltung sprechen. Journalistinnen werden angenörgelt, wenn die Redaktion die Entscheidung trifft, ihren Artikel hinter der Paywall zu veröffentlichen. Autorinnen werden gemaßregelt, sobald sie ihre Amazon-Buchseite verlinken, obwohl der größte Buchhänder mit seinen viel gelesenen Rezensionen, Sichtbarkeit schaffenden Rankings und seiner fairen Beteiligung bei Hörbüchern (Audible) ausschlaggebend dafür sein kann, ob sie ihren Beruf weiter ausüben können.
Warum löst es in manchen Personen so starke Gefühle aus, wenn ein fremder Mensch im Netz nicht nach ihren persönlichen Ansprüchen und Vorstellungen handelt? Und umgekehrt gedacht: Warum löst es in Content Creators so starke Gefühle aus, wenn Schafspelz-Manipulationsversuche oder „Ich entfolge dir jetzt!!“-Wutvariationen im Postfach landen?
Drei mögliche Antworten: Parasoziale Beziehungen, der Online Disinhibition Effect und – Menschlichkeit.
Das Konzept der parasozialen Beziehung existiert seit den 1950er Jahren. Damals bezog es sich auf TV-Prominente: Je öfter wir jemandem zusehen und zuhören, desto öfter wird das „Bindungs“-Hormon Oxytocin ausgeschüttet. Je verlässlicher die Routine ist, die wir mit unserem Gegenüber assoziieren – zum Beispiel Noras Story-Format Einschlafbegleitung –, desto mehr gefühlte Nähe kann entstehen. Das Fatale: Weil wir die Person ja nicht wirklich kennen, füllt unser Gehirn die Lücke zwischen gefühlter Nähe und (fehlender) realer Nähe mit Projektionen. Und weil wir der Person ja gewogen sind, schreiben wir ihr viele vorbildliche Eigenschaften und Verhaltensmuster zu – vermutlich sogar mehr, als wir selbst in petto haben.
Sozialpsychologin Johanna Degen erklärt in ihrem lesenswerten Buch Swipe, like, love, dass eine parasoziale Beziehung „ein dogmatisches und verlässliches Narrativ anbietet, was sich heilsam anfühlen mag“, aber wegen der fehlenden realen Verbindung nicht tragfähig ist. Es braucht nicht viel – manchmal eben nur eine Packung Himbeeren –, um diese Beziehung zu erschüttern oder ganz zu zerstören. So kommt es zu den allseits bekannten Unfollow-Ankündigungen, deren Tonfall oft rau bis verletzend ist. Das hängt auch mit dem Online Disinhibition Effect zusammen, der uns soziale Normen kaum noch spüren lässt, sobald wir ein Gegenüber nicht leibhaftig vor uns haben. Wir werden online also deutlich schneller ungeduldig und aggressiv. Menschen, die zudem nicht gelernt haben, bei starken Gefühlen erstmal einen Schritt zurückzutreten und die Situation genauer anzuschauen (inklusive der Frage, ob die starken Gefühle in der konkreten Situation wirklich angemessen sind), sind umso gefährdeter, bittere Vorwürfe oder sogar Hassnachrichten zu verschicken. (Deswegen brauchen wir meiner Überzeugung nach ein Fach wie Emotionskunde in den Schulen, in der Ausbildung, an der Uni: Zu viele Menschen haben eben nicht das Privileg, von klein auf einen gesunden Umgang mit Gefühlen zu lernen.)
Wenn wir wütende oder verachtungsvolle Nachrichten bekommen, löst das natürlich etwas in uns aus – das ist menschlich. Verachtung ist ein soziales Gefühl und dient, evolutionspsychologisch betrachtet, der Stabilisierung einer Gruppe: Wer Regeln bricht, wird mit kollektiver Verachtung bestraft, was wiederum Scham und die Angst vor Ausschluss weckt. Für uns als soziale Wesen ist Gruppenzugehörigkeit überlebenswichtig. Deswegen werden sich derart sanktionierte Regelbrecher künftig natürlich besser verhalten. Bloß: Online werden wir oft selbst dann „bestraft“, wenn wir gar keine Regeln gebrochen haben, und stehen dann mit der Angst alleine da. Vielleicht machen Influencer*innen auch deswegen wütende Unfollow-Nachrichten und Beschuldigungen immer mal wieder zum Thema: Wenn wir Vorwürfe teilen und von unserer Community das Feedback erhalten, dass diese Vorwürfe unbegründet sind, kann die Furcht vor Gruppen-Ausschluss wieder leiser werden.
Zwei kleine Impulse für den Alltag:
Bist du Content Creator und hast gerade wieder zornige Unfollow-Nachrichten im Postfach? Erinnere dich daran, dass sich diese Nachrichten in vielen Fällen so übersetzen lassen: „Ich verabschiede mich, weil du bedeutsam für mich bist.“ Auch wenn womöglich nicht dein Verhalten, sondern die Projektionen und unerfüllbaren Erwartungen deines Gegenübers diesen enttäuschten Beziehungsabbruch ausgelöst haben: Ein Beziehungsende schmerzt, immer, und es ist leider meist nicht die Zeit für Achtsamkeit. Wichtig: Das bedeutet natürlich nicht, dass du deine persönliche Hausordnung ignorieren und Kontakt mit Menschen zulassen solltest, die dir respektlos begegnen! Perspektivübernahme und Empathie helfen dir einfach nur bei der Abgrenzung und beim inneren Abhaken der Situation.
Bist du gerade wütend auf einen Content Creator und willst nicht einfach weggehen, sondern ganz klar deine Meinung sagen? Frag dich (oder deine Freund*innen), ob dein starkes Gefühl der konkreten Situation wirklich angemessen ist. Und: Was ist dein kurzfristiges Bedürfnis (z.B. Aufmerksamkeit bekommen) und was dein langfristiges Bedürfnis (gesehen und ernstgenommen werden, Austausch auf Augenhöhe)? Welche Reaktion wünschst du dir auf deine Nachricht – und welche Reaktion ist realistisch? Wie würdest du reagieren, wenn du von einer fremden Person genau diese Nachricht in genau diesem Tonfall bekommen würdest? Was würden deine Freund*innen über eine Person denken, die dir genau diese Nachricht in genau diesem Tonfall schickt?