Menschenfeindlichkeit nicht unwidersprochen stehen zu lassen, ist ein zentraler Baustein unserer Demokratie. Deswegen ist es für viele selbstverständlich, auch im Netz mit Widerspruch und Fakten dagegenzuhalten, sobald sie auf radikale Parolen stoßen. Dabei erleben sie aber immer wieder, dass ihre Online-Gegenrede ihr Gegenüber nicht wirklich erreicht oder sogar zu einer Eskalation führt. Warum das so ist und welche guten Alternativen es gibt, schauen wir uns heute genauer an.
Grund 1: Der Online-Enthemmungseffekt
Alle Herausforderungen einer direkten Begegnung – z.B., dass wir weniger Geduld mit Andersdenkenden haben, wenn wir uns moralisch im Recht fühlen – werden bei Online-Diskussionen verschärft. Wir spüren nämlich die Basisregeln des menschlichen Miteinanders (wie Höflichkeit und Respekt) kaum noch, wenn wir unser Gegenüber nicht leibhaftig vor uns haben. Deswegen eskalieren Online-Diskussionen nachweislich schneller.
Grund 2: Soziale Medien verstärken symbolische Abgrenzung
Wir sind online deutlich weiter außerhalb unserer Bubble unterwegs als offline. In den sozialen Medien sind wir mit tausenden Inhalten und Menschen konfrontiert; im Vergleich dazu sind unser Familien- und Freundeskreis, unser Arbeitsumfeld oder unsere Nachbarschaft winzig klein. Diese ständige Exposition kann unseren Drang zur Abgrenzung verstärken. In Online-Diskussionen fühlen wir uns oft als Stellvertreter »unserer« Gruppe – und sehen auch unser Gegenüber nicht mehr als Individuum, sondern bloß als Vertreter »der anderen«. Viele Menschen kommunizieren heute nur noch deswegen mit Andersdenkenden, weil sie öffentlich beweisen wollen, wie sehr sie den vermeintlichen »Feind« verachten.
Grund 3: Soziale Medien sind nicht safe
Nur wer sich sicher fühlt, hat das Vertrauen, Unsicherheiten und Fehler offen zugeben zu können, ohne mit Häme oder Hass rechnen zu müssen. Aber wer soll sich in einer Kommentarspalte sicher fühlen? Allein dass Elon Musk und Mark Zuckerberg schon 2023 über einen Kampf im römischen Kolosseum fantasiert haben, macht überdeutlich, wie die zwei mächtigen Plattformbetreiber soziale Begegnung definieren: als Kampfarena, in der der »Stärkere« den anderen vor Publikum demütigt. Zuckerberg hat mittlerweile die Kooperation mit unabhängigen Faktencheckern in den USA aufgekündigt und will noch mehr an Moderation einsparen, angeblich, um »Zensur« zu bekämpfen. Um es mit der Journalistin Lisa Hegemann in aller Deutlichkeit zu sagen: »Auf Instagram, Facebook und Threads darf man Frauen nun wieder als Eigentum bezeichnen und trans Menschen als geisteskrank.« Soziale Medien sind für viele von uns keine sicheren Orte. Wie sollen so Begegnungen auf Augenhöhe, Offenheit und Dazulernen möglich sein?
Grund 4: Überzeugungsarbeit ist Beziehungsarbeit
Was Bots, bezahlte Trolle und Fanatiker gemeinsam haben? Kein noch so kluges Argument wird sie überzeugen. Erst Ende Januar hat ein Whistleblower schwerwiegende Vorwürfe bezüglich systematischer Manipulationen bei X erhoben: Unter anderem sollen KI-generierte Fake-Accounts in Diskussionen wie echte Personen aufgetreten sein und gezielt Desinformationen verbreitet haben – in den USA und auch in Europa. Deutschland zählt zudem seit Jahren zu den Hauptzielen russischer Propaganda. Aber selbst wenn wir es gerade nicht mit Bots, bezahlten Trollen oder Fanatikern zu tun haben: Studien belegen, dass aggressive Kommentare meist von Personen stammen, die sich auch offline aggressiv verhalten. Die Chancen für ernsthafte Gesprächsbereitschaft stehen hier denkbar schlecht.
Natürlich ist es trotzdem nicht unmöglich, mit Online-Gegenrede Gehör zu finden. Wenn wir sehr viel Zeit und Ruhe mitbringen, vorbereitet sind und wissen, wie effektive Kommunikation funktioniert, und wenn unser Gegenüber bereit ist, zuzuhören und ebenfalls Zeit zu investieren, dann können wir online durchaus etwas bewegen. Dass all diese Voraussetzungen zutreffen, kommt aber leider nur selten vor.
An dieser Stelle wirst du vielleicht denken: Aber was ist mit den stillen Mitlesenden? Die kann ich doch mit Online-Gegenrede erreichen? Das Internet bietet längst ein Füllhorn an seriösen, kostenlos zugänglichen Informationen. An kritischen Inhalten. An Fragen, die zum Nachdenken anregen können. Unsere Gegenüber leben nicht unter einem Stein. Sie warten nicht sehnsuchtsvoll darauf, dass ausgerechnet wir sie aufklären, sondern sie entscheiden sich bewusst dagegen, sich seriös zu informieren – weil ihre Überzeugung eine emotionale Funktion hat, die sich nicht einfach mit einem Online-Kommentar aushebeln lässt. Unsere Vorstellung von stillen Mitlesenden ist vor allem eins: ein Marketing-Coup der sozialen Plattformen. »Die ›Social Industry‹«, fasst der Journalist Max Read treffend zusammen, »frisst unsere Zeit, indem sie Menschen erschafft und protegiert, die nur existieren, um aufgeklärt zu werden …« Raul Krauthausen schreibt: »Es ist ein zutiefst neoliberales Narrativ. Wir Konsument*innen können vermeintlich alle Probleme dieser Welt lösen, wenn wir nur das Richtige konsumieren. Wenn wir nur lange genug online bleiben, um uns in den Sozialen Medien zu ›informieren‹ und Gegenrede zu betreiben. Denn je länger wir online bleiben, desto mehr Werbung kann uns ausgespielt werden.«
Eine große Metaanalyse hat 2023 (in Bezug auf Verschwörungsglauben) gezeigt: Online-Gegenrede wirkt nicht. Weder inhaltlicher Widerspruch noch Empathie noch Humor. Was hingegen messbar funktioniert, sind Prävention und langfristig angelegte Interventionen mit direktem Kontakt. Nachhaltige Überzeugungsarbeit ist Beziehungsarbeit. Deswegen können wir im direkten Umfeld sehr viel mehr bewegen als bei Fremden im Internet.
Wichtig: Das bedeutet nicht, dass es online nur zwischen den zwei Möglichkeiten »Online-Gegenrede« versus »resigniertes Nichtstun« wählen könntest! Tatsächlich hast du jede Menge Optionen, wenn du dich online einsetzen willst. 💪
Vier Beispiele:
Du kannst Opfer von Online-Hass direkt kontaktieren und fragen, was sie jetzt brauchen: Hilfe beim Sichern von Material, das zur Anzeige gebracht werden muss? Begleitung beim Gang zur Polizei? Hilfe bei der Suche nach einer Anwältin? Die Möglichkeit, bei einem Spaziergang über die akuten Sorgen und Ängste zu reden? Einen sicheren Schlafplatz? …
Du kannst justiziable Inhalte zur Anzeige bringen und melden.
Du kannst entscheiden, radikalen Inhalten nicht durch Kommentare oder Shares zusätzliche Reichweite zu schenken, sondern stattdessen gezielt demokratische Aktivist*innen, Vereine, NGOs und Parteien sichtbar machen.
Du kannst online darüber sprechen, welche Partei du wählst und welche Kriterien du anlegst, wenn es darum geht, einer Partei zu vertrauen.
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PS: Wenn du mehr über effektive Kommunikation – online wie offline – lesen magst, lege ich dir ganz unverfroren mein neues Buch ans Herz. Bis nächsten Sonntag! Ich freu mich auf dich 🫶