Radikalisierung einfach erklärt, Teil 3: Sündenböcke.
Alle Narrative in die Ausnüchterungszelle, bitte!
Auf komplexe Probleme antworten manche Politiker*innen gern mit Sündenbock-Erzählungen. Sei es soziale Ungleichheit (Steuerbetrüger kosten den Staat jährlich Milliarden, aber als „Sozialschmarotzer“ werden Bürgergeldempfänger präsentiert), Klimawandel (Konservative kämpfen bisweilen lieber gegen eine grüne „Verbotspartei“, statt Klimaschutzmaßnahmen umzusetzen) oder Radikalisierung: Als Hauptverantwortliche und Risikogruppe werden oft wenig Gebildete und Menschen mit Migrationsgeschichte markiert – obwohl die internationale Radikalisierungsforschung zeigt, dass es keinen „radikalen Typus“ gibt.
Warum sind Sündenbock-Narrative gesellschaftlich so breit akzeptiert?
Der Großteil der Bevölkerung zählt sich zur gesellschaftlichen Mitte. Die politische Inszenierung der Mitte als Garant für Stabilität und Demokratie und von Radikalisierung als Randphänomen entlastet: Man selbst und das eigene Umfeld können „natürlich“ nicht Teil des Problems sein …
Wir leben in einer Gesellschaft, in der gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit tief verwurzelt ist. Schon 2016 waren z.B. 40 % der Deutschen überzeugt, die Gesellschaft würde durch den Islam unterwandert, und 2018 und 2019 vertrat mehr als ein Drittel ganz offen die Meinung, dass nicht alle Menschen die gleichen Rechte haben sollten. Wer ohnehin rassistische Vorurteile hegt, dem fällt es leicht, Menschen mit Migrationsgeschichte auch noch die gefühlte Verantwortung für ein gesamtgesellschaftliches Problem wie Radikalisierung aufzubürden.
Auch die moralische Abwertung von in Armut lebenden Menschen – und Armut ist oft mit einem Mangel an Bildungsprivilegien verknüpft – hat eine lange Tradition. Arme Familien wurden als „soziale Problemgruppe“ (1930er), „Problemfamilien“ (1950er), „Unterschicht“ (1980er) usw. diskriminiert; Narrative wie „Problemeltern“ und „Problemkinder“ halten sich bis heute. Auch in der Serie Adolescence, die grundsätzlich wichtige Aufklärungarbeit leistet, wird die Brutstätte für Radikalisierung eben nicht im Bürgertum verortet (obwohl Radikalisierung in allen gesellschaftlichen Schichten stattfindet und privilegierte Menschen eher gefährdet sind), sondern in der Arbeiterklasse, wo ahnungslose Eltern ihr Kind „unkontrolliert“ im Netz verloren gehen lassen.
Welchen Nutzen haben Sündenbock-Narrative für politische Akteure?
Wer wenig Gebildete als Risikogruppe darstellt, suggeriert mit Forderungen nach mehr Medienbildung oder mehr Online-Gegenrede, es gäbe schnelle und einfache Lösungen – und präsentiert sich als handlungsstark, obwohl er bloß Symbolpolitik (und Diskriminierung) betreibt.
Mit der rassistischen pauschalen Verknüpfung von Migration und Extremismus werden nach Attentaten von Personen mit Migrationshintergrund Gesetzesänderungen im Hauruckverfahren legitimiert; darunter sind meist großzügige Ausweitungen der Befugnisse des Verfassungsschutzes. Nach dem mutmaßlich islamistischen Messerangriff in Solingen 2024 schloss die Ampelregierung zudem Asylbewerber*innen, die unter die sog. Dublin-Regeln fallen, von staatlichen Leistungen aus; inwiefern das Islamismus bekämpfen soll, bleibt unklar. Das damals beschlossene „Sicherheitspaket“ und die begleitende Rhetorik mancher konservativer Politiker stärkten das Narrativ, dass Migration grundsätzlich mit Gewalt und Extremismus verbunden wäre – und verkauften so Diskriminierung, Schikane und Abschiebungen als Strategie gegen Radikalisierung.
Sündenbock-Narrative lenken von strukturellen Ursachen und politischem Versagen ab. Es ist Zeit, die Politik (und auch Medien, die solche Narrative reproduzieren) in die Verantwortung zu nehmen, seriös über Radikalisierung aufzuklären und echte Lösungen aufzuzeigen – die internationale Forschung hat hier längst geliefert.
Um es mit Franzi von Kempis zu sagen: „Druck auf Politik, auf Medien, auf öffentliche Institutionen entsteht durch Stimmen – auch deine.“ Franzi macht uns in ihrem aktuellen Newsletter ein großes Geschenk: Einen Briefgenerator für Schreiben an Politiker*innen, Ministerien und Chefredaktionen – inklusive Adresssuche. Mutprobe für heute: 10 Minuten Doomscrolling durch einen Brief ersetzen. Bist du dabei? 🫶
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Die Sündenbock-Inszenierung ist kein Versehen, sie ist politisches Kalkül. Sie dient jenen, die selbst keine Antworten haben, aber Angst und Abwertung wie eine Währung handeln. Sie zielt darauf ab, Menschen gegeneinander auszuspielen, um vom eigenen Versagen abzulenken. Das alles passiert nicht zufällig, sondern gezielt – weil Angst leichter regierbar macht. Wer das durchschaut, durchbricht den Kreislauf. Wer schweigt, spielt mit
PapaChriLo-Kommentar:
Die Sündenbock-Inszenierung ist kein Versehen, sie ist politisches Kalkül. Sie dient jenen, die selbst keine Antworten haben, aber Angst und Abwertung wie eine Währung handeln. Sie zielt darauf ab, Menschen gegeneinander auszuspielen, um vom eigenen Versagen abzulenken. Das alles passiert nicht zufällig, sondern gezielt – weil Angst leichter regierbar macht. Wer das durchschaut, durchbricht den Kreislauf. Wer schweigt, spielt mit.
PapaChriLo