Radikalisierung einfach erklärt, Teil 2:
Nein, „das Internet“ ist nicht an allem schuld. Es kann sogar ein ziemlich guter Ort sein, um für die Demokratie einzustehen.
Was radikale von nichtradikalen Akteuren unterscheidet? Die einen investieren langfristig in professionelle Kommunikation; die anderen reden kurz vor der Europawahl über ihre Aktentasche oder versuchen mithilfe einer Nazi-Parole, lustig zu sein …
Sei es die AfD, die sich als erste Fraktion im Bundestag ein Studio für Videoproduktion einrichtete; sei es die bei Instagram bunt und freundlich inszenierte Glaubensgemeinschaft Bhakti Marga; sei es der selbsternannte Islamische Staat, der bis zu 90.000 Tweets am Tag verbreitete und Apps für Kinder und Jugendliche entwickelte: Erfolgreiche radikale Akteure kommunizieren effektiv. Sie nutzen politische Debatten und soziale Leerstellen, um in der Mehrheitsgesellschaft Anschluss zu finden. Sie produzieren teilbaren Content, bieten alltagstaugliche Hilfen, präsentieren sich als Weltverbesserer, formulieren prägnant, kapern Hashtags und etablieren Kampfbegriffe. Reichweite ist garantiert – weil zu viele Menschen zu bequem sind, um Inhalte zu überprüfen, die scheinbar ihre Meinung bestätigen (Confirmation Bias), oder sich provozieren lassen, also den Wut-Köder schlucken.
Die Interaktionsrate in sozialen Medien steigt nachweislich, je reißerischer, negativer oder bösartiger ein Inhalt ist – auch wegen Menschen, die glauben, das Richtige zu tun, wenn sie diese Inhalte, versehen mit kritischen oder wütenden Kommentaren, weiterverbreiten. Tatsächlich leisten sie damit vor allem kostenlose Pressearbeit für Demokratiefeinde ...
… Und nein, das bedeutet nicht, dass über menschenverachtende Inhalte nicht gesprochen werden sollte! Guter Journalismus z. B. ordnet solche Inhalte ein, zeigt am konkreten Beispiel, wie Manipulation funktioniert, und lässt Wissenschaftler*innen (De-)Radikalisierungsprozesse erklären. Lesen und teilen wir solche Berichterstattung, stärken wir konstruktiven Journalismus, bilden uns weiter und können so bessere Diskussionen führen – und erkennen, welche Diskussionen sich ohnehin nicht lohnen.
Das Internet ist nie ein sicherer Ort gewesen. Lügen, Hetze, Doxing und Mordaufrufe gab es online schon in den 1980ern, also vorm WWW und lange vor den sozialen Netzwerken. Gruppenbezogene Menschlichkeit ist weder online noch offline eine Neuigkeit. FrüherTM war nichts besser, sondern die technischen Möglichkeiten für die Verbreitung von Hass waren begrenzter. Deswegen sind „soziale“ Plattformen, die Interaktion maximieren wollen und dabei menschenverachtende Inhalte kaum bis gar nicht moderieren, so gefährlich. Meta wird unter anderem beschuldigt, eine Mitschuld am Bürgerkrieg in Äthiopien und am Genozid an den Rohingya in Myanmar zu tragen. Aber hey, Hauptsache Faktenchecks abschaffen, um, Zitat Mark Zuckerberg, die „freie Meinungsäußerung auf unseren Plattformen wiederherzustellen“ …
Die Plattformen haben derzeit keinen Grund, ihr lukratives Erfolgsmodell zu ändern – dank zahnloser Politik und dank unserer täglichen Entscheidung, Instagram & Co. zu nutzen. Veränderung wird erst möglich, wenn wir kollektiv andere Entscheidungen treffen. Das geht auch als aktive*r Nutzer*in. z.B. können wir …
… uns vernetzen (z.B. beim Bündnis Demokratischer Content Creator, in einem Verein, einer Stiftung oder einer NGO) und geben, was wir gerade zu geben haben: Vielleicht ist es ein Händchen für Grafikdesign; vielleicht ist es Lust am Schreiben; vielleicht ist es Zeit, um Aktionen mitzuorganisieren, Flyer zu verteilen oder mithilfe von KI passgenau Briefe an Abgeordnete zu entwerfen. Wenn wir uns zusammentun, liegt weniger Last auf den Schultern der Einzelnen.
… fundierte Beiträge von Aktivist*innen, Wissenschaftler*innen und NGOs teilen.
… justiziable Inhalte zur Anzeige bringen.
… Opfer von Online-Hass direkt kontaktieren und fragen, was sie jetzt brauchen: Hilfe beim Sichern von Material, das zur Anzeige gebracht werden muss? Begleitung beim Gang zur Polizei? Hilfe bei der Suche nach einer Anwältin? Ein offenes Ohr? Einen sicheren Schlafplatz? …
… Geld geben, z.B. an den Spendenfonds zur Verteidigung der Demokratie.
… in unserer Community vereinbaren, nicht mehr auf Wut-Köder zu reagieren, und die frei werdende Zeit für gemeinsames Lernen und Diskutieren zu nutzen: Wie funktioniert Einflussnahme? An welchen Gefühlen und Handlungsimpulsen lässt sich erkennen, dass jemand versucht, uns zu manipulieren? Was ist emotionale Intelligenz und wie können wir sie im Alltag fördern – und uns so effektiv vor Fake News schützen?
… eigene demokratische Geschichten erzählen. Was bedeutet eine offene Gesellschaft für uns? Wie haben wir Vielfalt von klein auf erlebt? Für welche Begegnungen sind wir dankbar? Wie hat sich unser Blick auf Demokratie (und die Privilegien, die sie bietet) über die Jahre verändert? Welche demokratische Partei überzeugt uns derzeit am ehesten und warum? Welche Kriterien legen wir an, wenn wir entscheiden, ob Medien oder Politiker*innen unser Vertrauen verdient haben?
Willst du mich für einen Workshop oder Vortrag zum Thema (De-)Radikalisierung buchen? Klick einfach hier. Kennst du jemanden, der diesen kostenlosen Crashkurs brauchen könnte? Leite ihn weiter. Auf bald 🫶