Das Wort ist in aller Munde, wenn nach Schuldigen für unsere gesellschaftliche Misere gesucht wird: Polarisierung. Viele denken dabei an Nörgelgerds, die gefühlt direkt nach der Geburt in eine Echokammer gekrabbelt sind, um die erste Falschnachricht in ihren WhatsApp-Status zu tippen. Ähnlich wie stille Mitlesende werden Nörgelgerds nicht als Menschen gesehen, sondern nur als Abziehbilder. Während stille Mitlesende immerhin noch als lernbereit gelten, werden Nörgelgerds als unbelehrbar abgehakt. Beides trifft nicht die Realität; Letzteres aber kann für unsere Demokratie gefährlich werden.
Höchste Zeit also, ein paar Mythen zu entzaubern.
Das Wichtigste zuerst: Worüber reden wir eigentlich? Was genau bedeutet Polarisierung? Ultrakurz gefasst: Eine »Aufspaltung, bei der die Gegensätze deutlich hervortreten«. Wichtig ist, zwischen ideologischer Polarisierung (extremer Überzeugung) und affektiver Polarisierung (Feindseligkeit gegenüber Andersdenkenden) zu unterscheiden – beide treten nämlich nicht automatisch gemeinsam auf.
Jetzt aber zu drei gefährlichen Mythen in unserer Debatte:
Mythos 1: »Nur ungebildete Menschen sind polarisiert. Das Problem lässt sich also mit mehr Faktenchecks und Medienbildung lösen!«
Was wirklich stimmt:
Grünen-Wähler*innen sind – nach den Wähler*innen der AfD und der Linken – am stärksten affektiv polarisiert. Eine Gruppe also, die im Vergleich zu Wähler*innen anderer Parteien deutlich besser gebildet ist.
Überzeugungen beeinflussen unsere Denkprozesse. Je stärker eine Meinung ausgeprägt ist, desto stärker verzerrt das Gehirn neue Informationen so, dass die Meinung – vermeintlich – bestätigt wird. Oft verstärkt sich die ursprüngliche Überzeugung sogar nach der Konfrontation mit inhaltlichem Widerspruch.
Viele Menschen halten Andersdenkende unbewusst für dumm und/oder bösartig. Schuld daran ist eine kognitive Verzerrung namens Motive attribution asymmetry. Wir können Verzerrungen ihre Macht nehmen, indem wir sie uns immer wieder bewusst machen – und uns für einen neuen Weg entscheiden: Meinungen haben unseren Respekt oft nicht verdient, Menschen hingegen immer.
Mythos 2: »Es gibt nur ›polarisiert‹ oder ›nicht-polarisiert‹!«
Was wirklich stimmt:
Eine Person, die bei einem Thema stark polarisiert ist, kann bei anderen Themen eine ausgewogene Haltung haben.
Eine Person, die ihre Meinung revidiert, also nicht mehr ideologisch polarisiert ist, kann trotzdem noch Groll für Andersdenkende empfinden, also affektiv polarisiert sein.
Polarisierung ist ein Prozess. Dieser Prozess kann durch äußere Faktoren (etwa Pandemien oder Kriege) beeinflusst werden, aber auch durch die Ausgewogenheit einer Debatte. Solange wir also Andersdenkende nur belehren oder beschämen wollen, werden wir extreme Positionen auf allen Seiten verschärfen. Die USA machen uns seit Jahren auf traurige Art und Weise vor, was passieren kann, wenn wir Andersdenkende fallen lassen und dämonisieren und nur noch mit Gleichgesinnten Kontakt haben.
Mythos 3: »Wir sind als Land komplett gespalten!«
Was wirklich stimmt:
Soziale Medien sind kein Abbild unserer Gesellschaft. (Fast 50 % des Internetverkehrs kommt heute durch Bots; ein sehr kleiner Anteil von Accounts ist für einen Großteil des Hasses im Netz verantwortlich; radikale Akteure und feindliche Regimes verbreiten ihre Botschaft oft mithilfe bezahlter Trolle usw.)
Auch wenn nur noch 17 % der Deutschen glauben, dass es bei gesellschaftlichen Fragen einen breiten Konsens gibt: Es existieren sehr wohl große Mehrheiten. Zum Beispiel für Gleichstellung. Für die Verpflichtung zum Schutz von Menschen in Not. Für Klimaschutz. Gegen Vermögensungleichheit. Und für eine Offenheit gegenüber Andersdenkenden.
Zustände wie in den USA sind hierzulande noch sehr fern. »Dass reihenweise Familien zerreißen, weil sie unterschiedlich wählen, das sehe ich in Deutschland noch nicht, auch nicht im Osten«, benennt etwa die Persönlichkeitspsychologin Jule Specht. »In Deutschland hängen auch nicht alle ihre Fähnchen raus, um zu zeigen, mit welcher Partei sie sich identifizieren.«
Es ist an uns, jenen nicht (mehr) auf den Leim zu gehen, die der Soziologe Steffen Mau als »Polarisierungsunternehmer« bezeichnet: Menschen, die mit immer schrilleren Behauptungen an unsere niedersten Instinkte appellieren. Die bewusst übertreiben, höhnen und lügen, weil sie nach Reichweite gieren, nach Geld und/oder nach Wählerstimmen. Wir können uns jederzeit gegen Rage Bait und für Haltung entscheiden.
Es reicht nicht mehr, nur innerhalb unserer Bubble über die Gefahren von Spaltung zu diskutieren. So undankbar und ungerecht diese Aufgabe ist: Wir müssen (und können!) die Kommunikation mit dem AfD wählenden Vater oder der Impfungen ablehnenden Freundin auf neue Füße stellen. Wichtig: Selbstschutz kommt immer zuerst und natürlich gibt es Momente, in denen ein Kontaktabbruch alternativlos ist! Gleichzeitig weiß ich aus meiner langjährigen Beratung, dass viele Menschen nur eine Strategie versuchen, nämlich inhaltliche Gegenrede. Natürlich brennen sie dabei aus – weil diese Strategie bei polarisierten und radikalen Menschen nicht funktioniert. In meinem Buch Warum wir Familie und Freunde an radikale Ideologien verlieren – und wie wir sie zurückholen können findest du ein Kommunikationsprogramm; die Audioversion gibt’s kostenlos bei Spotify.
… Und wenn du gerade denkst: »Ist ja alles schön und gut, Dana, aber mein AfD wählender Onkel ist wirklich hoffnungslos und ich krieg Puls, wenn ich nur an ihn denke!!!«, oder wenn du das Glück hast, dass in deinem Umfeld niemand mit der AfD sympathisiert – dann hab ich kommenden Sonntag eine sehr gute, äh, ALTERNATIVE für dich, um unsere Demokratie zu schützen.
Bis dahin freu ich mich, wenn du diesen Newsletter teilen magst:
"Meinungen haben unseren Respekt oft nicht verdient, Menschen hingegen immer." So ein kurzer Satz und doch steckt da so viel drin! Hat mich direkt zum Nachdenken gebracht. 😊